Kiezgeflüster – Silke Hillenbrand

Zur Eröffnung und zur meist fotografierten Frau der Republik

BBA - Akademie der Immobilienwirtschaft e. V., Berlin

Hauptstraße 78/7912159 BerlinT 030 23 08 55-0F

Kühl wird es schon wieder in Berlin, gerade mal 7 Grad. Der Tag war bedeckt und es hat wie in den vergangenen Tagen auch, geregnet. In gespannter Erwartung schreiten die Gäste die Treppenstufen hinauf, Parfüm und Zigarrenrauch liegen in der Luft, das Rascheln der Mäntel und Kleider und das Blitzen der Pailletten und Augen, die sich suchend umsehen. Sind die Ehrengäste schon da? Wilhelm Abegg, Staatssekretär des preußischen Innenministeriums, Polizeivizepräsident Bernhard Weiß, Oberst der Schutzpolizei von Hellriegel und der Bürgermeister des erst ab 1871 gegründeten Friedenaus sollen da sein. Wo die wohl sitzen? Über tausend Sitzplätze. Ville, aber nicht so Ville wie im Titania Palast weiter de Straße runter, da sind et fast 2.000. Na, ja und in New York, da ist ja der „richtje“ Roxy Palast mit über 5.000 Plätzen. Stell‘ Dir det mal vor, vorletztet Jahr eröffnet, jröstet Kino der Welt, sind schon dolle Zeiten. Ja, bei de Eröffnung war ick ooch. Wat denn, in New York? Nee, im Titania, war ja erst letztet Jahr im Januar, war nich so nen Hundewetter wie heute. Letztet Jahr im Januar, war da nicht de Reichskonferenz? Hör mir uff, hat nüscht jebracht. Wat seit dem nich‘ schon wieder allet passiert iss. Nu ham wir det Volksbejehren gegen den Young Plan, der Goebbels meint, det wird ne Volksrevolution. Mal sehen, wie der Film iss. Andreas Hofer, na, wat die rote Fahne dazu wohl schreiben wird, ick hab‘ den Schreiberling hier ooch schon jesehen. Ob die in New York jetzt noch ins Kino jehn, nach dem Börsensturz letzten Donnerstach? Wir jehn ja och … Wer is denn noch so da? Haste die Renée jesehn. Wenn die da is, da prickelst mir... das iss ne „Garçonne“ … wenn ick mir wat jönne, jeh ick morjens innen Tierpark und kiek se mir an, wie se reitet … Ach, der is det hier bestimmt zu oll. Die zieht bestimmt mit de Hatvany oder’m Ringelnatz oder Rilke um de Häuser. Wenn se hier wäre, würden wa se sehen, so jroß wie se is und wat für ne Erscheinung. Meistfotografierte Frau unserer Republik. Vielleicht iss se auch bei ihrem Jaleristen, dem Flechtheim, bei eenem der dollen Flechtheim Bälle – wie war dit noch gleich „ »Man nehme sehr viele schöne Frauen, fünf Mitglieder der Haute-Banque, mehrere andere Bankiers, je fünf prominente Schauspielerinnen, Tänzerinnen und mehrere berühmte Rechtsanwälte, Dichter, Parlamentarier, Frauenärzte, Boxer, etwas von der Konfektion, Matratzen, die Sintenis und die Hatvany ...«. – stand so im „Querschnitt“.. Oder se iss bei ihrer Gießerei Noack inner Fehlerstrasse, iss nich‘ weit von hier. Vielleicht sehn wir sie ja doch noch, beim rausjehn?

So scheinen die Wände und Stufen des Roxy-Palastes zu flüstern, wenn sie vom 31. Oktober 1929 – der Eröffnung des Roxy erzählen. Ob sie Renée Sintenis an dem Abend noch gesehen haben? Unweit des Roxy-Palastes ist ein Platz nach ihr benannt, der Schöpferin des Berliner Bären und der goldenen und silbernen Bären, die alljährlich bei der Berlinale verliehen werden und die, soweit ich weiß, weiterhin von der Gießerei Noack, inzwischen von Friedenau nach Charlottenburg umgezogen, gegossen werden. Erstmalig verliehen wurde der Bär 1951 bei der ersten Berlinale, im Titania Palast, der seit einigen Jahren wieder eines der Kinos hier in „unserem“ Kiez ist. Vielleicht war sie ja tatsächlich bei ihrer Gießerei und arbeitete an dem Fohlen, das heute auf dem Renée Sintenis Platz steht? Sie schuf es 1929. Heute ist dieses Fohlen Anziehungspunkt der Kinder der Umgebung, die dem Fohlen regelmäßig Gras zum fressen hinlegen. Auch für Erwachsene gehört der Renée Sintenis Platz wegen dieses Fohlens zu ihren Lieblingsplätzen in Berlin. Die in Schlesien geborene Renée Sintenis fühlte sich Tieren sehr verbunden und war fasziniert davon, Bewegungen Ausdruck zu verleihen. Vertrauensvoll frisst das Fohlen, spitzt aufmerksam die Ohren und wirkt freudig-spielerisch vertieft in sein Sein.

Die kleinen Tierstatuen waren ein Verkaufsschlager in den 20iger Jahren und machten Renée Sintenis zur bestverdienenden Künstlerin ihrer Zeit. Sie war in allen wichtigen Ausstellungen vertreten und in Künstlerkreisen hoch angesehen. Einfach war der Weg dahin nicht für sie gewesen: Ins große Berlin ziehen, mit ihrer Familie musste sie brechen, ihren eigenen künstlerischen Ausdruck finden. Mit Malerei wurde sie nicht glücklich und dem damals gängigen Monumentalstil in der Bildhauerei musste sie erst Eigenes entgegensetzen können. Auch ihr Privatleben passte nicht in das gängige Muster der Zeit. Ihr Mann Emil Weiß, Schöpfer u.a. der sogenannten Weißschen Schriften Fraktur (1913), Antiqua (1928), Gotisch (1936) und Rundgotisch (1937), den sie 1917 heiratete, unterstütze sie als Künstlerin.

Wie für so Viele bedeutete 1933 auch für sie ein verheerender Einschnitt. Die Künstlerin, die 1931 in New York im Museum of Modern Art ausstellte, deren Werke u.a. von Hemmingway gesammelt wurden, galt als Halbjüdin und wurde aus der Akademie der Künste ausgeschlossen. Ihre Kunst galt als entartet. Da sie ihr Pferd nicht zurücklassen wollte, blieb sie mit ihrem Mann in Berlin. Sein Tod 1942 traf sie tief und stürzte sie auch künstlerisch erneut in eine Krise. Das Ende des Krieges erlebte sie in ihrer Wohnung in der Innsbruckerstrasse 23 in Schöneberg (unweit des Roxy-Palastes), in der sie bis zu ihrem Lebensende blieb. Trotz der Amputation ihres Zeigefingers und einer schmerzhaften Rückenerkrankung kämpfte sie sich auch nach dem Krieg zurück in den Kunstmarkt, wenngleich sie an ihre früheren Erfolge nicht mehr anschließen konnte. 1947 wird sie als Professorin an die Hochschule für Bildende Künste berufen. 1948 erhält sie den erstmalig verliehenen Kunstpreis der Stadt Berlin und 1952 als zweite Frau überhaupt (nach Käthe Kollwitz) den „ordre pour le mérite“ für Wissenschaften und Kunst. 1953 erhält sie das große Bundesverdienstkreuz und 1955 wird sie erneut in die Akademie der Künste aufgenommen.

Ihr 55. Todestag war am 22. April 2020. Ihre Grabstätte befindet sich auf dem Waldfriedhof in Berlin-Dahlem, Hüttenweg 47, Abt. 24B-12. Ihre Haushälterin, Lebensgefährtin der letzten Jahre und Verwalterin ihres Nachlasses Magdalena Goldmann liegt seit 1989 dort neben ihr. Renées Sintenis Werke erzielen weiterhin hohe Preise unter Sammlern.

Was uns Renée wohl heute zuflüstert? Vielleicht: „Gib nicht auf, gehe Deinen Weg, lebe Dein Leben, auch wenn es manchmal schwer ist und scher‘ Dich nicht darum, Muster zu erfüllen – mache Deinen eigenen Entwurf!“ Ob sie oft im Roxy ins Kino ging?

Lauschen Sie doch, das nächste Mal, wenn Sie bei uns vorbeikommen … .

Ihre
Silke Hillenbrand