Kiezgeflüster – Silke Hillenbrand

BBA - Akademie der Immobilienwirtschaft e. V., Berlin

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Was Günther Grass, Uwe Johnson und die Kommune I mit dem Roxy-Palast zu tun haben, erfahren Sie im Kiezgeflüster

Auf der Dachterrasse des Roxy Palastes hören wir durch die Fenster der Dachgeschosstube hindurch: „Lange Wellen treiben schräg gegen den Strand, wölben Buckel mit Muskelsträngen, heben zitternd Kämme, die im grünsten Stand kippen. Der straffe Überschlag, schon weißlich gestriemt, umwickelt einen runden Hohlraum Luft, der von der klaren Masse zerdrückt wird, als sei da ein Geheimnis gemacht und zerstört worden. Die zerplatzende Woge stößt Kinder von den Füßen, wirbelt sie rundum, zerrt sie flach über den graupligen Grund.“ So fließen uns die ersten Zeilen aus Uwe Johnsons „Jahrestagen“ entgegen, dem Werk, an dem er sechzehn Jahre seines Lebens arbeiten sollte und das zu den wichtigsten deutschsprachigen Romanen des 20. Jahrhunderts zählt. Wie ist er aber nun in die Dachstube unseres Roxy-Palastes gekommen?

Johnson war auf der Suche nach dem „Geheimnis“ des richtigen Lebens, nach der Frage, was Wahrheit und ob sie benennbar ist, ob ein Mensch in den grausamen Verhältnissen seiner Zeit ein aufrechter bleiben und richtig handeln kann. Auf diese und weitere Fragen sucht er, der den Nationalsozialismus und die kommunistische Diktatur am eigenen Leib erfahren hatte, schreibend Antworten zu finden.

Der 1934 in Pommern geborene und im mecklenburgischen Güstrow aufgewachsene Johnson war im Juli 1959 aus der DDR nach Westberlin übergesiedelt. Dort wurde ihm im Oktober die „Atelierwohnung“ in der Niedstraße Nr. 14, in der einst der Expressionist Karl Schmidt-Rottluff malte, zugewiesen. Jahre später, im November 1967, kam es während seines zweijährigen Aufenthaltes in New York dort zu einem verheerenden Wohnungsbrand. Seine Schwägerin Jutta Schmidt kam dabei ums Leben. Für die aus dem Brand geborgenen Teile seiner Unterlagen und Manuskripte mietete er unsere Dachstube auf dem Roxy an und nutzte diese nach seiner Rückkehr von 1968 bis 1974 als Schreibstube, um die ersten drei Bände seines Hauptwerks, die „Jahrestage“, zu schreiben. Darin spannt er einen Bogen durch vier Jahrzehnte deutsche Geschichte, von 1933 bis 1968, entlang der Lebensgeschichte seiner in New York weilenden Hauptprotagonistin Gesine Cressphal, die dem „Genosse Schriftsteller“ und ihrer elfjährigen Tochter Marie ihre Lebensgeschichte erzählt. Tag für Tag, vom 20. August 1967 bis 20. August 1968, fließen die aktuellen Tagesereignisse aus der New York Times mit der Erinnerungsarbeit und der Auseinandersetzung mit der erzählten Gegenwart der „Jahrestage“ ineinander.

Mit Johnsons Ankunft in der Niedstraße 14 verbindet sich auch die Geburtsstunde des „Dichterviertels der Nachkriegsliteratur. Kurz vor Johnsons Ankunft in Friedenau (1959) war ihm der schriftstellerische Durchbruch mit der Veröffentlichung von seinem Roman „Mutmaßungen über Jacob“ im Suhrkamp Verlag gelungen. Im Herbst 1959 wird der vielleicht bekanntere Roman, die „Blechtrommel“ seines künftigen Nachbarn Günther Grass veröffentlicht, den er bei der Leipziger Buchmesse kennenlernt. 1962 gelingt Johnsons Freundin Elisabeth Schmidt die Flucht aus der DDR, geheiratet wird am 28. Februar 1962. Im November wird Tochter Katharina geboren. Im April 1963 beziehen die Johnsons ihre Hauptwohnung, die „Familienwohnung“ in der Stierstraße Nr. 3 in Friedenau. Sie sind damit in unmittelbarer Nachbarschaft der gerade erst nach einem Entwurf von Hansrudolf Plarre errichteten Philippus Kirche. Für diese „recht modeselige(n) Auffassung von Baukunst“ fand er keine besonders anerkennenden Worte, verglich den Bau mit einem „Ski-Übungshang“ und fühlte sich von dem „knalligen Lärm“ der Glocken gestört. In der DDR hatte sich Johnson u.a. für die Junge Gemeinde und Meinungsfreiheit stark gemacht und war daher zunächst exmatrikuliert worden. Nun steht er staunend vor der Kirche: „ […] lese die Ankündigungen im Schaukasten, die Farblichtbildervorträge über die Seilstraßenbahnen in San Francisco oder die Erstickung des Individuums in den Zwängen und Isolierungen der modernen Industriegesellschaft, mit Diskussion, und bin regelmäßig verdutzt durch die Hartnäckigkeit, mit der dies Institut die feuilletonistischen Entwicklungen verfolgt, nicht nur in der Architektur, auch in der zeitgemäßen Reform seines Betriebsauftrags, der in der Erklärung der Welt für Mitglieder und Schwankende besteht. Und wie viele meiner Nachbarn drücke ich meine Hochachtung schweigend aus, und gehe nicht hinein.“

Johnson vermittelt Grass die kleine leerstehende Backsteinvilla mit Apfelbaumgarten unmittelbar neben seiner Atelierwohnung in der Niedstraße, in die Grass 1964 mit seiner Familie einzieht. Ebenso verhilft er seinem Verleger Hans Magnus Enzensberger zu dem Haus in der Fregestraße 19, das dieser 1965 mit seiner Familie bezieht.

Ob er das später bereut hat? Während seines New Yorker Aufenthaltes überlässt er Dagrun Enzensberger, die sich von ihrem Hans Magnus trennen will, die Wohnungen in der Stierstraße und in der Niedstraße. Munter kündigt Dagrun Johnson kurz darauf an: „Wir machen eine Kommune“. Und tatsächlich ziehen die Mitglieder der berüchtigte Kommune I am 19. Februar 1967 ein: Dieter Kunzelmann, Fritz Teufel und Rainer Langhans sind u.a. mit von der Partie. Freie Liebe solle gelebt und die Institution Kleinfamilie, die die Keimzelle des Faschismus sei, gesprengt werden, so wie alles andere, was als störend empfunden wurde. Zu seinem Entsetzen las Johnson in der New York Times, dass in seiner Wohnung das „Pudding-Attentat“ auf den US-Vizepräsident Hubert H. Humphrey geplant worden sei. Umgehend bat er Grass um Hilfe, der „die auf den Kopf gestellten Wohnungen“ Niedstraße und Stierstraße von der Polizei räumen ließ. Da sich Hans Magnus Enzensberger nicht als „Hüter“ seiner Verwandten sah, weigerte er sich, für die Schäden aufzukommen und die Freundschaft zerbrach.

Zerbrechen sollte auch Johnsons Ehe, nachdem die Familie 1974 auf die Insel Sheppey gezogen war. Vielleicht „von der […] Masse zerdrückt“, - der Masse seines zunehmenden Misstrauens und seiner Paranoia vor den „Herren mit den Hüten“, der Stasi, die ihn bereits in Friedenau ein Postfach mieten lies, um selbst die Begegnung mit Postboten zu vermeiden. Oder seiner Schreibblockade, für die er seine Frau verantwortlich machte, der Masse seiner Vorwürfe, sie habe ihn betrogen und jahrelang bespitzelt. Seine zunehmende Alkoholsucht mag ebenso dazu beigetragen haben, wie sein zunehmender Rückzug in die Welt seiner Romanfiguren. 1983 kann er seinen vierten Band der „Jahrestage“ beenden. Er wurde 49 Jahre alt und verstarb 1984 allein, vermutlich an Herzversagen. Seine letzte Ruhestätte fand Johnson auf dem Friedhof „Halfway Cemetery“ in dem Dorf Halfway Houses, südlich von Sheerness auf der Insel Sheppey.

Die Dachstube auf dem Roxy wird seinen Namen tragen. Die BBA plant zurzeit die Einrichtung.

Was uns Johnson heute zu sagen hat? Ob er dem „Hohlraum Luft“ sein Geheimnis entlocken konnte?

Horchen Sie doch das nächste Mal, wenn Sie bei uns vorbeikommen….

Ihre
Silke Hillenbrand